Wiesbadener Fototage 2019 – alter ego

Das Ausloten von Grenzen ist seit jeher immanenter Bestandteil von Fotokunst.

Die „11. Wiesbadener Fototage – Fotofestival für zeitgenössische Kunst“ machen dies nun selbst zum Thema.

Die grundsätzliche Fragestellung mit welchen Grenzgängen – inhaltlichen sowie fotografischen – sich die Fotografen auseinandersetzen bildet den Ausgangspunkt und Kern der Fototage.

Das Medium Fotografie ermöglicht die Mittlerrolle zwischen einer Bildwelt des Fotografen und dem Publikum als ungewohnten Grenzgang.

Zu insgesamt 6 verschiedenen Ausstellungsorten wird das Publikum eingeladen, die jeweiligen Grenzgänge in über 57 fotografischen Werken zu entdecken.

 

Ergebnisse aktueller Fotokunst sind immer daran zu messen, inwieweit sie die Grenzen der Fotografie neu ausloten. Reale Grenzen der Welt und Sichtweisen gehören ebenso dazu wie ästhetische, physische und psychische Grenzen. Das betrifft sowohl reale als auch fiktive Grenzen. Dabei geht es um die grundsätzliche Fragestellung des „So noch nicht Gesehenen“.

 

Ich freue mich, dass mein Beitrag „AE – alter ego“ bei den Wiesbadener Fototagen zu sehen sein wird.

AE – alter ego

Heute

Fassungslos schaue ich auf die schwarzweißen Bildschnipsel auf dem Monitor: Ist das mein Ich? Sieht es so in mir drin aus, wenn ich nicht aus mir herausschauen kann? Welcher Teil von meinem Selbst hat sich in den Bildern manifestiert? Vor was verschließe ich die Augen?
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Geister“ von Goya kommt mir in den Sinn und ich klappe das Laptop schwungvoll und mit einem Hauch von Panik zu.

Rückschau

Vor einigen Jahren lese ich zum ersten Mal über „blinde Fotografen“. Voll Unverständnis und ohne den Hauch von Willen, sich in das Thema hinein zu fühlen, tue ich das Gelesene als totalen Unsinn ab. Wie soll man denn fotografieren, wenn man nicht oder kaum sehen kann? Wo doch die Fotografie das Gesehene wiedergibt?

Es dauert Jahre, bis mir der eigene Widerspruch in meinen Gedanken bewusst wird: Seit wann gibt denn die Fotografie das Gesehene wieder? Vertrete ich in Diskussionen mit Künstlerkollegen und Fotografen nicht stets die Ansicht, dass Fotografie weit mehr als das Abbild der eigenen Umgebung ist? Ganz langsam breitet sich die Bereitschaft aus, mit diesem Thema selbst Kontakt auf zu nehmen. Ich schaue mir im Netz Bilder sehbehinderte Fotografen an und überlegte, wie sie ihre Werke erschaffen: Was tun sie, was ich nicht tue?

Eines Tages bin ich dann bereit, diese mir fremde Welt zu betreten. Zeit, Ort und die eigene Einstellung stimmen, ich bin im Flow und mein Geist ist weit offen.

Dvigrad, die historische Ruinenstadt in Istrien, ist an sich schon ein verwunschener Ort. Aus der Zeit gefallen liegen die Reste einer frühen Zivilisation auf einem Hügel, überwuchert und umrankt von der Macchia des Mittelmeers. Ich bin immer wieder sehr gerne dort, auch an diesem Tag, aber doch ist heute etwas anders:

Alles, was ich mit Dvigrad verbinde, ist mehr oder weniger als sonst: mehr Hitze, weniger Wind, mehr Duft der Macchia, weniger Menschen, mehr Licht und Schatten, weniger Geräusche… als wäre ich alleine inmitten der Ruinen und nicht mehr in meiner eigenen Zeit.

Ich denke über die für mich so deutlich spürbare Veränderung nach, die an diesem Tag diesen Ort bedeuten, und ganz allmählich kriecht der Gedanke heran, es hier und jetzt einmal mit der „blinden Fotografie“ zu probieren – die vielen nicht visuellen Reize beginnen die Kanäle für eine nicht visuelle Wahrnehmung zu öffnen.

Wie in Trance stelle ich meine Kamera ein, in etwa passend zur Lichtmenge. Allein schon dieses „in etwa passend“ nötigt mir alles ab: Wo ist mein Kontrollwahn geblieben?

Ich muss aufpassen, was ich tue.

Vorsichtig bewege ich mich nun mit nahezu geschlossenen Augen durch die Stadtreste und blinzele immer nur ganz kurz, um nicht den Weg zu verlieren.

Was fühlen meine Füße, wo tragen sie mich hin? Eine Brombeerranke bringt mich beinahe zum Straucheln, ich muss vorsichtiger meinen Weg suchen.
Nach was riecht es hier so gut? Wie im Traum bewege ich mich entlang einer Geruchsspur bis ich beinahe in einem knapp mannshohen Rosmarinstrauch lande. Ich knabbere ein paar Nadeln.
Irgendwo knispelt es, ein zartes Huscheln und ein sich entfernendes Rascheln im trockenen Gras lassen meine geschlossenen Augen in diese Richtung blicken.

Langsam formen sich Bilder in meinem Kopf, sie basieren auf Gefühlen, Geräuschen, Gerüchen, und auf taktilen Reizen. Ich mache in paar Fotografien mit geschlossenen Augen: vorsichtig, unsicher, ausprobierend.

Ich halte es nicht mehr aus und muss mir die Ergebnisse auf dem Display betrachten. Ich bin sehr überrascht, was ich dort sehe: Ok, das scheint überraschenderweise „zu funktionieren“, es ist etwas Sinnvolles zu sehen. Also erhöhe ich den Anspruch an mich selbst und versuche mir vorzustellen, wie ich Dvigrad fotografisch begegnen würde, wenn ich gestern erblindet wäre.

Beim Fotografieren erlaufe ich mir meine Motive normalerweise, arbeite in diesem Modus an Schnitt und Perspektive, spiele mit Licht und Schatten, probiere Farbkonzepte durch, arbeite an der gewünschten Bildgestaltung, bin sehr konstruktiv, neige zum Verkopften und Zufälle gibt es eigentlich nicht.
Das lässt sich im Rahmen meiner aktuell formulierten Zielsetzung aber nicht 1:1 umsetzen – und schon gerate ich ins Schleudern:
Was bleibt denn dann von meiner Fotografie übrig? Langsam wird aus dem Spiel, was eben noch so leicht und lustig erschien, eine ernste Sache. Das Verlassen der Komfortzone ist nicht meine Stärke.

Nach einem Moment der Verunsicherung beschließe ich, dass ich – wenn ich schon raus muss aus meinem beherrschten Terrain – das dann bitte auch richtig mache:
Verzicht auf das Herumlaufen, Verzicht auf Farbe, Verzicht auf Konstruktion, Verzicht auf die Beherrschbarkeit des Ergebnisses, Verzicht auf alles, was meine fotografische Arbeit sonst kennzeichnet. Einzig die Art, schnell, hochkonzentriert und wie von der Außenwelt abgeschnitten mir meine Bilder zu erarbeiten, stehe ich mir zu.

Die Bilder sehe ich erst am PC an, am Abend und mit Abstand zu meinem Grenzgang.
Es sind verstörende Bilder, sie erinnern mich an Friz Langs ‚Metropolis‘, sie zeigen neben dem Licht, das stets die Qualität von physischer Fassbarkeit hat, viel Dunkelheit und auch Haltlosigkeit, bis hin zu Bodenlosigkeit.

Dieser Grenzgang geschah im Spätsommer 2017. Seitdem liegen die Bilder unbearbeitet auf dem Rechner, sozusagen auf dem „blinden Fleck“. Durch die Ausschreibung der Wiesbadener Fototage 2019 erinnere ich mich wieder an sie und arbeite sie aus – auch nach der langen Zeit noch mit einer gehörigen Portion Respekt und Vorsicht vor dem Inhalt.

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